Aralsee - Landschaftswandel - 2023

Russland und Zentralasien - Räume im Wandel
978-3-14-100900-2 | Seite 183 | Abb. 6| Maßstab 1 : 6000000

Überblick

Das schleichende Verschwinden des Aralsees gilt als eine der größten von Menschen verursachten Umweltkatastrophen. Experten sprechen heute vom „Aralsee-Syndrom“, um eine weiträumige Umweltdegradation mit gravierenden ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu beschreiben, die durch bedenkenlose großtechnische Eingriffe in den Wasserhaushalt einer ganzen Region hervorgerufen wurde.
Der Aralsee war noch vor nicht langer Zeit der viertgrößte Binnensee der Erde. Doch die von ihm eingenommene Fläche hat sich seit dem Jahr 1960 von rund 68 000 km² auf unter 10 000 km² verringert. Auf dem trocken gefallenen Seeboden breitet sich eine Aralkum genannte Wüste aus. 1987 kam es in der Folge zu einer Teilung des Sees in eine nördliche, in Kasachstan gelegene Hälfte und eine größere südliche in Usbekistan. Letztere hat sich mittlerweile ein zweites Mal geteilt, das östliche Segment verlor seit 2006 80 Prozent des bei der Abspaltung vorhandenen Volumens, periodisch trocknete es sogar ganz aus. Der einstige Fischerort Muinak, in dem früher tausende Menschen vom Fischfang lebten, ist heute eine am Südrand der Aralkum gelegene Kleinstadt, in der verrostete Schiffswracks mehr als 90 Kilometer von der Küste entfernt auf dem Trockenen liegen.

Vom Binnensee zur Wüstenlandschaft

Seine Existenz inmitten von Wüsten (die mittlere Jahresniederschlagssumme liegt in der Region unter 150 Millimeter) verdankt der Aralsee seinen Zuflüssen Amurdarja und Syrdarja, welche in den niederschlagsreichen Hochgebirgen von Kirgisistan und Tadschikistan entspringen und die verdunstenden Wassermengen ausgleichen konnten. Doch wurde das empfindliche Gleichgewicht zwischen Zufluss und Verdunstung ab den 1960er-Jahren durch Großprojekte in der Bewässerungslandwirtschaft gestört. Gelangten Anfang der 1960er jährlich noch 56 Kubikkilometer in den See, waren es in den 1980ern nur noch sechs Kubikkilometer. Heute erreicht nur noch der Syrdarja den See regelmäßig. Durch das relativ flache Seebecken und seine dafür große Oberfläche wurde der Aralsee im einstrahlungsbedingt begünstigten Wüstengürtel Zentralasiens schnell zu einem riesigen Verdunstungsbecken.
Mit der abnehmenden Wassermenge nahm der Salzgehalt zu. Der hohe Eintrag von Düngemitteln aus den Bewässerungsflächen verstärkte diesen Prozess. Die heute trocken gefallenen einstigen Seeflächen sind von ausgedehnten Salz- und Bodenverwehungen betroffen. Zu den ökologischen Auswirkungen des Landschaftswandels zählen die zunehmenden Salzstaubstürme östlich des Sees ebenso wie die Versalzung und Verunreinigung des Flusswassers. Die 1960 noch vorhandenen Auenwälder in den Flussdeltas sind ganz verschwunden. Wo sie sich einst erstreckten, wurde inzwischen ein breiter Streifen mit salzresistenten Büschen gepflanzt, um die fortschreitende Desertifikation zu bremsen. Der kommerzielle Fischfang musste in den 1980er-Jahren eingestellt werden. Die noch vorhandenen Restflächen des Großen Aralsees sind ökologisch tot oder in ihrer Arten- und Individuenzahl extrem verarmt.

Landschaftswandel durch Bewässerung

Zentralasien ist eine generell wasserarme Region und deshalb besonders anfällig für die chronische Übernutzung der knappen Ressourcen. Die wichtigste anthropogene Ursache für das Verschwinden des Aralsees war die zunehmende Inanspruchnahme der Flüsse Amurdarja und Syrdarja. Die wasserreichen Staaten am Oberlauf der Flüsse (Tadschikistan und Kirgisistan) nutzen deren Wasser vorwiegend zur Energieproduktion, während die am Flussunterlauf liegenden Staaten Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan das Wasser hauptsächlich für landwirtschaftliches Bewässerungsland benötigen. Um vom Ausland unabhängig zu werden, hatte die Führung der Sowjetunion schon in den frühen 1960er-Jahren beschlossen, den Anbau von Reis und Baumwolle in Zentralasien drastisch zu steigern. Da beide zu den wasserbedürftigsten Nutzpflanzen überhaupt gehören, musste ein riesiges Bewässerungssystem errichtet werden. Die Wasserentnahme gipfelte Anfang 1974 in einer vollständigen Blockade des Syrdarja, 1982 folgte die Blockade des Amurdarja.
Infolge eines mangelhaften Wassermanagements und unsachgemäßer Anbaumethoden waren die Anbauflächen von starker Bodenversalzung betroffen. Überschüssiges Wasser wurde in etwa 40 relativ große künstliche Drainageseen oder in Kleinseen und Senken abgeleitet, wo es zu großen Teilen verdunstete. Unbeabsichtigt speiste das Wasser des Amurdarja so auch den Sarykamysch-See im Grenzgebiet von Turkmenistan, dessen Fläche sich deshalb seit 1960 um ein Vielfaches vergrößerte.
Bis heute wird an Amudarja und Syrdarja großflächig Baumwolle angebaut. Beispielsweise sind in Usbekistan noch immer über 4 Millionen Hektar (und damit der größte Teil des Ackerlandes) Bewässerungsland, welches staatlich kontrolliert wird und hauptsächlich dem Baumwollanbau dient. Strukturelle Probleme, zum Beispiel bei der Bewässerung, bestehen fort; es wird aber mit internationaler Unterstützung versucht, die Land- und Wassernutzung nachhaltiger zu gestalten.

Wassermanagement und Kooperation

Baumwolle ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der zentralasiatischen Ökonomien, insbesondere in Usbekistan und Tadschikistan, wo sie zu den wichtigsten Exportgütern zählt. In beiden Ländern ist noch immer ein Großteil der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig. Trotz der wirtschaftlichen Bedeutung der Baumwolle gibt es seit Jahren Anstrengungen, den landwirtschaftlichen Wasserverbrauch zu senken, um dessen negative Auswirkungen auf die Umwelt zu verringern. Alle zentralasiatischen Staaten haben seit der Unabhängigkeit den Baumwollanbau zurückgefahren, so auch Usbekistan, wo früher einmal rund die Hälfte der Landesfläche dem Baumwollanbau diente. Durch verstärkte Kultivierung von Getreide, Gemüse und Futtermitteln konnte der Wasserverbrauch reduziert und die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln verbessert werden. Überdies konnte Usbekistan dank internationaler Unterstützung in den vergangenen Jahren vermehrt in neue Technologien investieren, um die Wassereffizienz zu steigern. Eine vollständige Sanierung der Bewässerungsinfrastruktur im gesamten Aralseebecken ist allerdings aufgrund der immensen Kosten praktisch unmöglich; nach Schätzungen der Weltbank wären zu diesem Zweck Investitionen in Höhe von mehr als 40 Milliarden US-Dollar nötig.
Heute gibt es keine Hoffnung mehr, den Aralsee als Ganzes zu retten. Selbst bei vollständiger Einstellung der Wasserentnahme würde es 100–150 Jahre dauern, bis der ursprüngliche Pegel des Sees wieder erreicht wäre. Nichtsdestotrotz zeigen die Bemühungen der Anrainerstaaten, dass die ökologische und sozioökonomische Situation mit kleinen Schritten verbessert werden kann. Durch den Bau des Kok-Aral-Damms, der 2005 mit Unterstützung der Weltbank fertiggestellt wurde, und durch Flussbettsanierungen zur Eindämmung der Versickerung ist es Kasachstan gelungen, den Wasserstand im nördlichen Aralsee zu stabilisieren. Dort ist der Wasserstand seit dem Tiefstwert von 2004 (32 Meter) inzwischen wieder auf ein Niveau von 43 Meter angestiegen, die Wasserfläche hat sich im gleichen Zeitraum um rund 30 Prozent ausgedehnt, der Salzgehalt ist von vier Prozent auf einen Wert unter 1,5 Prozent gefallen. Für die Zukunft soll der Wasserstand entweder auf 48 Meter erhöht oder ein zweites Wasserniveau geschaffen werden. Dieses würde eine kleine östliche Bucht auf einem Niveau von 50 Meter ermöglichen (s. Karte). So könnte der Syrdarja-Zufluss effektiver genutzt und der bereits heute wieder mögliche Fischfang weiter ausgebaut werden.

Folgen für Mensch und Umwelt

Die Lebensbedingungen der Menschen im Aralseebecken haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verschlechtert. Große Probleme bereiten neben dem Vordringen der Wüste und der Versalzung der Böden die hohe Belastung der gesamten Region durch Düngemittel, Herbizide und Pestizide, die in den Baumwollkulturen massenhaft zum Einsatz kamen. Die lokale Bevölkerung leidet unter Wasserknappheit, dem verstärkten Auftreten einer Vielzahl von Krankheiten, einer deutlich erhöhten Säuglingssterblichkeit, einer ebenso deutlich verringerten Lebenserwartung und nicht zuletzt unter drastisch verschlechterten Erwerbsmöglichkeiten. Nach dem Ende der Atomindustrie, des Landmaschinenbaus und der Nahrungsmittelindustrie – die auf dem Fischfang im Aralsee beruhte – gibt es kaum noch Arbeit für sie. Hinzu kommen großräumige Probleme, die sich aus der ehemaligen militärischen Nutzung ergeben: Das ehemalige Testgelände für Biowaffen, einst auf einer Insel im Aralsee, hat inzwischen eine dauerhafte Landverbindung, gilt aber immer noch als verseucht.

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