Osteuropa - Geopolitik

Osteuropa - Wirtschaft und Konflikte
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Überblick

Durch Osteuropa verläuft mit der EU- und Schengen-Außengrenze eine Linie, die eine unterschiedlich starke europäische Integration und Annäherung markiert. Akzentuiert wird die Trennung durch den von Russland unterstützten Separatismus in Moldau (Transnistrien), Georgien (Abchasien, Südossetien) und der Ostukraine („Volksrepubliken“ Luhansk, Donezk) sowie besonders durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine (seit 2014 mit der Besetzung der Krim, seit Februar 2022 mit dem Angriff auf Kiew, Charkiw und im Donbas). Die Ukraine, Moldau und Georgien streben deshalb verstärkt in die Europäische Union und haben mittlerweile den Status von Beitrittskandidaten erreicht. Belarus (Weißrussland) hingegen gerät immer stärker in den Einflussbereich Russlands.

Ende des Ost-West-Konflikts

Bis in die späten 1980er-Jahre war Europa durch den Ost-West-Konflikt in zwei einander feindlich gegenüberstehende Blöcke geteilt – NATO und Warschauer Pakt. Ab 1985 und besonders nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 versuchte Michael Gorbatschow die Sowjetunion durch Reformen zu erneuern („Glasnost“, „Perestroika“), scheiterte damit aber weitgehend. 1989/90 erfasste ein rasch verlaufender Prozess der Selbstbestimmung und Demokratisierung die Staaten des sowjetischen Machtbereichs; der Warschauer Pakt löste sich 1991 auf. Selbstständigkeitsbestrebungen innerhalb der UdSSR machten sich zuerst in den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen bemerkbar und verliefen nicht gänzlich gewaltfrei. Auch brachen in der Sowjetunion unterdrückte, nicht gelöste Nationalitätenkonflikte wieder auf, besonders im Kaukasus.
Wirtschaftliche Probleme, zentrifugale Tendenzen und schließlich der fehlgeschlagene Putsch gegen Gorbatschow führten im Dezember 1991 zur Auflösung der Sowjetunion. Auf ihrem einstigen Territorium konstituierte sich – ohne die baltischen Republiken – eine lose Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Ihr gehörten zunächst die nun selbstständigen Staaten Russische Föderation, Belarus, Ukraine, Moldau (Moldawien), Georgien, Armenien, Aserbaidschan sowie in Zentralasien Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan an. Die in allen Staaten und quasi in „Überschallgeschwindigkeit“ erfolgende Transformation zu kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Bedingungen führte zu erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die sich als Kehrseite des Demokratisierungsprozesses tief eingeprägt haben.
Von anhaltender politischer Instabilität, wirtschaftlicher Unterentwicklung, ethnischen und sozialen Konflikten sowie islamistischem Terrorismus gekennzeichnet war der zur Russischen Föderation gehörende Nordkaukasus. Gegen das nach Selbstständigkeit strebende Tschetschenien führte Russland 1994–96 und 1999–2009 zwei Kriege.

Neuorientierung

Die ehemaligen Ostblockstaaten orientierten sich neu in Richtung Westen: Polen, die Tschechische Republik und Ungarn traten 1999 der NATO bei, 2004 folgten die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien als erster Staat aus der „Konkursmasse“ des ehemaligen Jugoslawiens. In weiteren Schritten traten Albanien (2009), Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft bei. Acht ostmitteleuropäische Staaten wurden 2004 Mitglieder der Europäischen Union (EU); Rumänien und Bulgarien folgten 2007, Kroatien 2013. Die Staaten des sogenannten Weltbalkans mit dem Kosovo als jüngstem (Unabhängigkeit 2008) blieben aufgrund vieler demokratischer und rechtsstaatlicher Defizite sowie ungelöster nationaler Konflikte als Beitrittskandidaten lange im politischen „Vorraum“ der EU. Dies änderte sich erst mit der zunehmenden Einflussnahme Chinas und Russlands in diesen Staaten bei einem gleichzeitig deutlicher werdenden Gegensatz zwischen dem historischen „Westen“ als selbstverstandenes Bollwerk der Demokratie und Freiheit einerseits, und zunehmend selbstbewusst auftretenden und wirtschaftlich aufstrebenden Autokratien (ob offen oder verdeckt) andererseits, die eine Führungs- und Vorbildrolle des „Westens“ ablehnen (z. B. BRICS-Staaten). Infolgedessen wurde allen Staaten des Westbalkans (einzige Ausnahme ist der international nicht uneingeschränkt anerkannte Kosovo) sowie Moldau, der Ukraine und Georgien der Status als EU-Beitrittskandidat zuerkannt und bis auf Georgien auch Beitrittsverhandlungen aufgenommen (in Georgien besteht – Stand Oktober 2024 – eine innenpolitische Auseinandersetzung zwischen der russlandfreundlichen Regierung und einer europafreundlichen Bürgerbewegung bzw. Opposition).
Die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion, weitaus größter GUS-Staat und einzig verbliebener mit Kernwaffen, versuchte die sowjetischen Nachfolgestaaten stärker an sich zu binden. Nie wurde die GUS aber, auch aufgrund zahlreichen Interessenskonflikte zwischen ihren Mitgliedern, ein engerer Bund. Im Gegenteil: Das politische Klima kühlte sich ab. 2008 erklärte Georgien nach dem kurzen Kaukasuskrieg, der die Unabhängigkeit der von Russland unterstützten abtrünnigen Teilgebiete Abchasien und Südossetien festigte, seinen Austritt. Unter Protesten Russlands vereinbarten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Belarus im selben Jahr mit der EU die Östliche Partnerschaft.
Neben der militärischen Integration in die NATO schritt auch die politische und wirtschaftliche Annäherung an die EU voran: Für Moldau, die Ukraine und Georgien stand eine Mitgliedschaft in NATO oder EU zunächst nicht zur Debatte, dennoch öffneten sich diese Staaten weiter Richtung Westen, insbesondere durch Assoziierungsabkommen mit der EU (2016/17).

Expansion Russlands

Lediglich Belarus, Armenien und die zentralasiatischen GUS-Republiken blieben enger mit Russland verbunden: wirtschaftlich im Rahmen der 2014 gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und politisch-militärisch durch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) mit russischen Militärbasen etwa in Belarus, Armenien und Tadschikistan.
Daneben bildeten sich mit russischer Billigung bzw. Unterstützung seit Anfang der 1990er-Jahre völkerrechtlich nicht anerkannte Gebiete mit Zügen einer eigenen Staatlichkeit heraus: Transnistrien (Moldau) sowie Abchasien und Südossetien (Georgien). Im Zuge des „eingefrorenen“ Konflikts über die hauptsächlich von Armeniern bewohnte Exklave Bergkarabach auf dem Gebiet Aserbaidschans trat die Türkei in einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan (2020), der zweite nach 1992–94, neben Russland als weiterer politischer Akteur auf. Im Sommer 2023 flammte dieser Konflikt erneut auf und es gelang Aserbaidschan im September, mit Unterstützung der Türkei und durch Nichteingreifen seitens Russlands, das in der Ukraine unter Druck stand, Bergkarabach gänzlich zu erobern und die armenische Bevölkerung zur fast vollständigen Flucht zu bewegen.
Nach der Regierungsübernahme proeuropäischer Kräfte in der Ukraine („Euro-Maidan“) Anfang 2014 besetzte Russland die russisch geprägte Halbinsel Krim, gliederte das Gebiet gewaltsam in sein Staatsgebiet ein und unterstützte außerdem separatistische Milizen in der Ostukraine. Trotz diplomatischer Bemühungen – durch die OSZE und unter Vermittlung Deutschlands und Frankreichs – gelang keine Befriedung. Vielmehr entwickelte sich im Osten der Ukraine ein Stellungskrieg entlang einer 450 Kilometer langen „Kontaktlinie“. Russland betrachtete sich dabei nicht als Kriegspartei, festigte allerdings die Anbindung der von den Milizen ausgerufenen „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk.
Parallel zu russischen Forderungen nach weitgehenden „Sicherheitsgarantien“ für Russland (Dezember 2021), die einer Verdrängung der NATO aus Ostmitteleuropa bzw. einer Schwächung der Bündnisbindung zwischen Europa und den USA gleichgekommen wäre, marschierte die russische Armee um die Jahreswende 2021/2022 im Westen Russlands und in Belarus auf. Auf die Anerkennung der ostukrainischen Separatistenrepubliken als selbstständige Staaten im Februar 2022, ließ Russland den militärischen Einmarsch in die Ukraine folgen. Der humanitär, finanziell und militärisch immer stärker von der EU und NATO unterstützten Ukraine gelang es bis Ende 2022, den russischen Vormarsch zu stoppen und Teile des von Russland besetzten Gebiets zurückzuerobern. Das Hauptkriegsgeschehen verlagerte sich vollends in den Süden und Südosten der Ukraine entlang einer 1 300 Kilometer langen Frontlinie. Der Krieg wird auch gegen die Zivilbevölkerung geführt, wie die immer wieder erfolgenden russischen Raketen- und Drohnenangriffe auf ukrainische Städte weit jenseits der Frontlinie zeigen. Dabei wird Russland militärisch mutmaßlich vom Iran, von Nordkorea und zumindest wirtschaftlich auch von China unterstützt. Der Konflikt entwickelt sich seit Ende 2023 zu einem Zermürbungskrieg gegen die Ukraine und Russland kann – Stand Oktober 2024 – derzeit Geländegewinne im Donbass verbuchen. Die vielfältigen internationalen Auswirkungen und Verwerfung des Krieges können am Beispiel der Landwirtschaft und Nahrungsmittelexporte in Karte 151.3 nachvollzogen werden.

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